Gedämpftes Gelächter, halblautes Grölen und mattes Gepolter im unteren Stockwerk ließen mich vermuten, dass der Tag sich bereits seinem Ende entgegen neigte. Das fahle rotstichige Licht, welches sich mühsam durch die verdreckte Fensterscheibe quälte, bestätigte mich in dieser Annahme.
Noch leicht benommen stellte ich fest, wie dringend ich diesen Schlaf gebraucht hatte. Dabei lagen schon sehr viel schlimmere Tage mit weitaus weniger Schlaf hinter mir. Ob es an dieser Kombination aus dem Passieren unpassierbarer Straßen, dem Abwimmeln lästiger Möchtegernbegleiter und dem Hokuspokus dieses Pseudo-Nachtschattens lag?
Alles Ausreden, riss ich mich am Riemen.
Ich setzte mich auf und sah mich um. Die umstehenden Betten waren immer noch unberührt – und ich erlaubte mir ein schadenfrohes Grinsen.
Dann fiel es mir wieder ein ... Dieser Nachtschatten!
Hastig sprang ich auf, wurde jedoch von meiner Bettdecke aufgehalten. Der Holzfußboden beschloss kurzerhand, meinem Sturz in die Tiefe ein jähes Ende zu bereiten.
Prüfend – zugegeben, vielleicht auch etwas misstrauisch – sah ich mich erneut im Zimmer um. Außer mir war niemand im Raum. Sogar diese merkwürdigen Symbole an der oberen Bettkante waren verschwunden. Dabei hatte ich sie gestern Abend selbst im Halbdunkel ziemlich gut erkennen können. Langsam rappelte ich mich auf und wagte einen genaueren Blick auf den Bereich jenseits der besagten Bettkante. Das Bett war gemacht worden und von dem Gerümpel, das sich dort so weiträumig ausgebreitet hatte, fehlte jede Spur.
Dieser Anblick ließ mich nur schwer daran glauben, dass hier in der letzten Nacht tatsächlich jemand geschlafen hatte. Doch da war noch etwas anderes, das nicht stimmte.
Der Tisch fehlte, von der Petroleumlampe darauf einmal ganz abgesehen. Ich war mir sicher, dass ich eigentlich gar nicht dort stehen dürfte, wo ich gerade stand. Genau hier hatte gestern Abend ein Tisch gestanden – nicht besonders groß, aber mit den typischen vier Beinen und der obligatorischen waagerechten Tischplatte. Gut, ich hatte ihn gestern im Schummerlicht nur gesehen und nicht angefasst. Aber wer prüft schon regelmäßig nach, ob es einen Tisch, den man zufällig erblickt, wirklich gibt oder ob man sich diesen nur einbildet? Doch selbst wenn ich es fertig gebracht hätte, mir den unwirklichsten aller Tische zusammenzudenken, war da immer noch diese Sache mit dem Licht. Ich bezweifelte ernsthaft, dass die Halluzination von einer Lampe ein Zimmer ohne Weiteres ausleuchten konnte. Oder war alles, selbst die Begegnung mit diesem zwielichtigen Burschen doch nur ein Traum gewesen?
Die Brotkrümel auf meiner Bettwäsche widersprachen diesem Gedanken ...
Wie auch immer, ich hielt es für das Beste, nicht weiter nach Existenzbeweisen für einen Tisch und eine Lampe zu suchen – schon gar nicht so kurz nach dem Aufstehen. Nitja hatte beide Gegenstände, warum auch immer, als Souvenir mitgehen lassen und fertig. Sollte sich doch der Vermieter damit auseinandersetzen. Ich schloss das Kapitel dieses zwielichtigen Gesellen für mich ab und vergrub es gleich neben meinem kognitiven Kochbuch für geschmackvolle Lebensmittelvergiftungen.
In aller Ruhe zog ich mich an und packte mein überschaubares Hab und Gut zusammen.
Die respektvolle Stille, die ich durch das Betreten des Gastraumes erneut in Umlauf brachte, zeigte sich heute weit weniger beklemmend. Der eine oder andere Gast nickte mir sogar unterwürfig zu. Am Tresen genehmigte ich mir ein deftiges Frühstück, das im weitesten Sinne schon einmal irgendwas mit Brot, Speck und etwas, das wahrscheinlich irgendwo im Moor verendet war, zu tun gehabt hatte. Dennoch beglich ich ohne zu murren den viel zu hohen Preis für diese Mahlzeit und tätigte anschließend ein paar gezielte Blicke in die allgemeine Runde, sodass ich die Herberge ohne Diskussion verlassen und gen Südwesten aus Kentwest aufbrechen konnte.
🧭🧭🧭
Ein Weg! Ein ganz normaler, befestigter Sandweg, auf dem man einfach so gehen konnte.
Vier Tage und Nächte glitschig vereiste Holzplanken waren mehr als genug. Es reichte mir, auf allen Vieren einen modrigen Pfad aus gefrorenen Brettern entlang zu krabbeln – oder zu robben. Alles, was nur wehtun konnte, tat mir weh, wenn es nicht schon längt taub von dieser fiesen, zeitweilig feuchten Kälte war.
Jetzt sah ich festes Land vor mir – und das schon nach insgesamt fünf von ursprünglich sechs angedachten Tagen, die man brauchte, wenn man im Sommer auf der Soton-Route reiste und dabei in jedem einzelnen dieser Sumpfdörfer nächtigte. Es hatte sich wahrlich gelohnt, sofort nach dem Essen einfach weiterzuziehen und nicht länger als nötig in diesen mit hilfsbedürftigen Menschen nur so überfüllten Herbergen zu verweilen. Denn nicht nur meine Nerven und mein Geldbeutel fühlten sich dadurch besser, mich durchströmte ein beinahe ekstatischer Quell der Freude, als ich nach einer schieren Ewigkeit aus Moder, sprödem Holz und Matsch einen Wegweiser entdeckte, der aufrecht im Boden steckte – und nicht traurig zur Seite sackte. Dass er mir die Information „noch 3 Kilometer bis Duneburg“ vermitteln wollte, erschien mir in diesem Moment erst einmal nebensächlich. Dennoch schlug ich diese Richtung ein. Früher oder später würde ich mit Sicherheit für ein Bett und etwas zu Essen sehr dankbar sein.
Eine mit Raureif bedeckte Hügellandschaft nahm mich zärtlich in Empfang und begleitete mich einen breiten und kurvenreichen Weg entlang. Weit sehen konnte ich nicht, aber ich legte auch keinen großen Wert darauf. Stattdessen ließ ich mich hinter jeder kleineren Erhebung zur Linken oder Rechten meines Weges von einem neuen Stückchen Straße überraschen. Ich konnte aufrecht gehen. Das reichte mir schon.
Friedlich trottete ich so meines Weges. Ich döste ein bisschen – eigentlich eine gute Bilanz nach vier Tagen ohne Schlaf. Etwas polterte gegen meinen Oberkörper. Ich fiel der Länge nach zu Boden.
„Heh!“, brüllte ich ein paar Schritten hinterher, die sich eilig von mir entfernten. Vom Boden aus und auf dem Rücken liegend, hatte das, was dort schleunigst Reißaus nahm, gewisse Gemeinsamkeiten mit mehreren Lagen Stoff, die der Wind um einen langen, dünnen Pfahl gewickelt hatte. Einen Pfahl mit zwei dürren, staksigen Beinen am unteren Ende.
„Heh“, erwiderte eine auffallend gewöhnliche Stimme jenseits meiner Schuhsohlen.
„Was ist denn?“, reagierte ich – mal wieder kurz davor, genug von meinen Mitmenschen zu haben. Sekundenbruchteile später war es dann so weit. Drei Mistgabeln, zwei Spaten und ...
„Ist das ein Besenstiel?“
„Ich hab dir doch gesagt, dass das auffällt“, knurrte einer der Burschen mit Mistgabel.
Dennoch hielten es die meisten dieser sechs jungen Männer für angebracht, mich mit mehr oder minder gefährlichen Gegenständen zu bedrohen.
„Aber es ist ein Familienerbstück“, verteidigte sich der mit dem Besenstiel.
Allesamt wirkten die sechs nicht sonderlich kampferprobt. Vielmehr hatten sie dieses gewisse Etwas von sehr kompetenten Spezialisten aus den Bereichen Agrarkultur und Spirituosenkonsum.
„Hätte es nicht wenigstens der Stiel einer antiken Mistgabel sein können?“, warf einer der Spatenträger ein. „Wie, zum Peryptolithen, sollen wir uns den Ausgeburten des Bösen gegenüber Respekt verschaffen, wenn wir nur halbherzig ausgerüstet sind?“
„Immerhin benutze ich Qualität“, rechtfertigte sich Besenstiel. „Im Unterschied zu euch habe ich mir bis jetzt noch keinen einzigen Splitter eingefangen.“
„Das liegt daran, dass du mit dem Ding noch nicht einmal richtig zugehauen hast“, kommentierte Mistgabel Nummer Zwei.
„Nun hackt mal nicht so auf ihm herum“, nahm Mistgabel Nummer Drei Besenstiel in Schutz. „Immerhin haben wir mit ihm das Überraschungsmoment auf unserer Seite.“
„Oh, ich war wirklich sehr überrascht“, pflichtete ich ihm bei.
„Da, hörst du, Herten?“, wandte sich Besenstiel an Spaten Nummer Eins, „Ich habe das Überraschungsmoment.“
„Ja, ja“, winkte Spaten Nummer Eins argumentativ überboten ab.
„Und selbst ein Besenstiel kann eine sehr gefährliche Waffe sein“, fügte ich vom Boden aus der Diskussion hinzu.
„Ach ja?“
Etwa zehn Sekunden, ein paar gezielte Hiebe mit dem Besenstiel und ein sechsstimmiges Stöhnen später verstanden die anderen meinen Standpunkt. Und hatte ich bereits erwähnt, wann ich zum letzten Mal geschlafen hatte?
Ich ließ den Besenstiel zu Boden fallen und begab mich wieder auf den Weg nach Duneburg.
Manche Leute machen sich über die möglichen Folgen ihres Handelns einfach zu wenige Gedanken ...
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