Natürlich hatte ich, bevor ich Dormizien vor einem guten halben Jahr verlassen hatte, ein nützliches Handwerk erlernt, das ich an und für sich sogar recht gut beherrschte. Und an und für sich war ich auch kein Mensch, der Meinungsverschiedenheiten mit dem Schwert löste. In Dormizien wurde man so erzogen, dass man Konflikte friedlich handhabte oder es besser gar nicht erst soweit kommen ließ.
Allerdings musste ich schon bald feststellen, dass andere Länder in dieser Hinsicht äußerst andere Sitten aufwiesen. Und ich habe mich wirklich ernsthaft bemüht, das Andenken an meine gute Erziehung aufrechtzuerhalten. Aber als gelernter Werkzeugschmied kommt man ohne Ausrüstung mit Hammer, Amboss und Feuerstelle nun einmal nicht besonders weit, wenn man von der Welt etwas Interessantes sehen will ...
Wie es sich zeigte, erwies ich mich viel anpassungsfähiger, als ich es je von mir erwartet hätte. Ich entdeckte mein natürliches Talent für die schlagfertige Durchsetzung meiner Interessen, ergänzte es mit meiner dormizianischen Vorliebe für Konfliktvermeidung und bemerkte, dass es sich auf dieser Grundlage als Gelegenheitskopfgeldjäger sehr lukrativ und flexibel leben ließ ...
Der Mund des Fremden öffnete sich ein Stück und schloss sich wieder. Dann schüttelte er langsam den Kopf, wobei er sehr behutsam darauf achtete, diesen auch auf seinen Schultern zu behalten.
„Sag mal“, ergriff ich erneut das Wort und gab mich überraschend verständig. Dieses Spielchen begann mir zu gefallen. „Du bist doch nicht der Einzige, der hier weg will. Warum einigst du dich nicht mit den anderen und ihr macht euch gemeinsam auf den Weg?“
Der finstere Blick des Schankwirtes traf mich von der Seite. Offenbar fürchtete er, dass seine Kundschaft durch meinen Scherz auf dumme Gedanken kam und ihm seine Saison ruinierte.
Der Mund des Fremden dagegen lächelte, seine Augen allerdings nicht. „Sie sind Feiglinge und stinkende Nichtskönner“, postulierte er, sehr von seiner Selbstsicherheit überzeugt.
Ich spürte eine vage Erleichterung, als sich drei Dutzend Blicke von mir lösten. Allem Anschein nach hatten nun sämtliche Gäste nur noch Augen für den einen von ihnen, der sich unmittelbar neben mir befand.
Der Wirt hinter seinem Tresen wirkte stattdessen deutlich entspannter und machte den Eindruck, ein weiteres freies Bett für den morgigen Tag einzuplanen.
Ich für meinen Teil erinnerte mich daran, was ich eigentlich vorgehabt hatte, bevor ich von einem Freibier aufgehalten worden war. Also trank ich den Humpen in einem Zug leer, stand auf und beugte mich vor zu meinem Wohltäter.
„Es mag sein, dass du recht hast“, raunte ich ihm zu. „Aber du hättest das nicht so laut vor aller Ohren sagen sollen. Ach ja, und danke für die Einladung.“
Der Mann sah mich an, als hätte ich in einer fremden Sprache zu ihm gesprochen. Dabei wirkte er eigentlich nicht wie jemand von der naiven Sorte. Doch entweder ahnte er nicht im Geringsten, was ihm heute Nacht noch blühen würde, oder er verdrängte es.
„Wo ist das Zimmer?“, fragte ich schließlich, an den Wirt gewandt.
„Oben, Zimmer Nummer 4. Das untere Bett, links vorm Fenster, sollte noch frei sein.“
Ich legte etwas Geld auf den Tresen. „Reicht das?“
Der Schankwirt warf einen kompetenten Blick auf den Stapel blassgelber Scheine.
„Alles zusammen macht zweihundertzwanzig“, sagte er nach einem Moment des Rechnens.
„Was denn? – Mark?“
Der Wirt zuckte mit den Schultern, „Inflation, Angebot und Nachfrage, Steuern ...“
„Jajaja“, unterbrach ich ihn, wühlte widerwillig in meiner Jackentasche und erhöhte die Summe auf dem Tresen um einen entsprechenden Betrag.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zur Treppe machen, als sich in meinen Augenwinkeln etwas bewegte. Auch in der Nähe des Eingangs und den hinteren Ecken der Wirtschaft nahm ich Bewegung wahr. Trotz der dämlichen Bemerkung meines Gönners hatte ich es irgendwie geschafft, die gesamte Aufmerksamkeit erneut auf mich zu lenken.
Die unruhig wabernde Masse aus ungewaschenen Raufbolden und Wegelagerern machte sich in unsteten, aber rhythmischen Bewegungen daran, zu mir herüber zu schwappen. Schwermütig und träge erhoben sich die Männer von ihren Bänken und bewegten sich langsam, aber sicher auf mich zu. Das war gar nicht so einfach in der Enge dieses mit Menschen und Tischen überfüllten Gastraumes. Ich hatte mich ohnehin schon gefragt, wie so viele ausgewachsene Männer unter Einfluss von Bier und Wein hier verweilen konnten, ohne einen größeren Schaden an der Einrichtung oder aneinander zu hinterlassen. Meiner Ansicht nach, bestand die Antwort wohl alleine darin, dass sie sich einig waren. – Einig darin, es hier zu ertragen, bis das Wetter besser wurde. Oder eben einig darin, sich dem nächstbesten und lebendigen Durchreisenden – egal ob er es wollte oder nicht – anzuschließen. Aber nicht mit mir!
„Also gut“, sagte ich scharf. „Jeder bleibt genau da, wo er ist.“ Intuitiv war meine linke Hand längst zu meinem Schwert gewandert und umfasste es am Stichblatt. Kam es zum Angriff, konnte ich so die Waffe ungehindert mit der Rechten ziehen. Außerdem machte diese Geste einen Eindruck, der auf keinen Fall zu unterschätzen war.
„Wo auf dem Weg nach Süden findet man die nächste Ordnungsbasis?“, erkundigte ich mich, vom Tresen abgewandt, beim Schankwirt und auf die grobe Masse achtend.
„Em“, antwortete dieser, „etwa vier Tagesreisen von hier, in Duneburg.“
Ich nickte – und beschloss spaßeshalber den Versuch zu wagen ...
„Wer von euch hat Lust, dieses ... Dorf mit mir zu verlassen?“, fragte ich in mein Publikum. „Stehen bleiben! – Ja, so ist's besser. Meldet euch, wenn ihr euch angesprochen fühlt. – Aha. Das dachte ich mir. – Auf wen von euch ist ein Kopfgeld ausgesetzt? – Oh, das ist beachtlich. – Bei wem sind es mehr als zehntausend Mark? – Mehr als fünftausend? – Mehr als zweitausendfünfhundert ... ? – Gesundheit. – Mehr als eintausend? – ... – Fünfhundert? – Ja, bitte? – Nein, ich lege keinen Wert auf Mengenrabatt. – Zweihundertfünfzig? – Was für Straftaten werden bitte mit einem Kopfgeld von weniger als zweihundertfünfzig Mark geahndet?! – Wie, Inflation?“
War das zu fassen?! Jetzt wunderte ich mich nicht mehr, warum ausgerechnet diese Horde von Freizeitspitzbuben ihren Winter in diesem tiefgekühlten Sumpf verbrachte. Ich überlegte ernsthaft, ob ich danach Fragen sollte, wer von ihnen die Reise hierher „gewonnen“ hatte, und ob vielleicht ein geliebtes Familienmitglied vor der Abreise in höchsten Tönen von diesem Ort und seinen Sehenswürdigkeiten geschwärmt hatte.
Ein mitfühlender Zeigefinger tippte mir auf die Schulter.
Es war der Schankwirt, der sich vorsichtig zu mir herüber gebeugt hatte.
„Wenn ich etwas sagen dürfte ...“, sagte er taktvoll, „Die ... dicken Fische ... sind schon lange nicht mehr hier. Die meisten waren schon fort, bevor die Temperaturen den Gefrierpunkt erreicht haben. Und jetzt, da es so kalt ist, nehmen sie lieber den befestigten Umweg im Westen. Ab und zu verirrt sich mal einer hierher. Bleiben tut jedoch keiner, wenn er alleine wieder wegkommt. – Nein, nicht zu dieser Jahreszeit.“ Er begann kleinlaut zu flüstern. „Ich habe das ungute Gefühl, dass sich diese – ertragreicheren – Leute ... von meiner übrigen Kundschaft etwas bedrängt fühlen ...“
„Ach, nein“, flüsterte ich kaum schockiert zurück.
Ich warf den erwartungsvollen Herren einen letzten Blick zu. Drei Dutzend flehende Blicke reagierten.
„Nein!“, beendete ich diese Unterhaltung und stapfte kopfschüttelnd die Treppe zu den Schlafräumen empor.
Ob ich – im Nachhinein betrachtet – doch lieber unten geblieben wäre, wenn ich gewusst hätte, wer und welche Konsequenzen mich dort oben erwarteten?
Ich denke nicht.
Noch keine Kommentare vorhanden
Was denkst du?