Es war kalt in Kentwest.
Nicht ganz so kalt, wie in meiner Heimat Dormizien, wo Winter mit Temperaturen um die zehn Grad minus als warm galten, aber hier war es immerhin nasskalt. Und somit war es speziell für diese Kälte ein Leichtes, ihr eigentlich geringes Ausmaß in voller Gänze zu entfalten. Die eisig feuchte Luft hatte nicht lange gebraucht, um meine Kleidung bis auf die Unterwäsche durchzuweichen – und so fror ich jetzt schon seit Stunden.
Bereits vor dem Morgengrauen war ich aus der kleinen Siedlung am Rande der Sotonsümpfe aufgebrochen. Zuvor hatte ich mir vom Herbergsvater allerdings noch den genauen Weg durch diese morastige Landschaft erklären lassen und steuerte nun die erste Zwischenstation auf dieser Route an – Kentwest.
Die Luft in den Sümpfen war dermaßen nass, dass man sie hätte trinken können. Jedoch wies der moderige Geruch dieser Gegend sehr deutlich darauf hin, dass das keine besonders gute Idee war.
Eigentlich hatte ich gehofft, das Dorf schon gegen Nachmittag zu erreichen ...
Inzwischen war es kurz nach Mitternacht.
Die stehende Feuchtigkeit und die Kälte hatten den Weg, der größtenteils aus verrottenden Holzplanken auf Stelzen bestand, in eine eisige Rutschbahn verwandelt. Schon wenige Meter nachdem ich diesen Sumpfweg betreten hatte, war es mir nicht mehr möglich gewesen, ganz normal einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Jetzt begriff ich auch, warum sich der Herbergsvater dermaßen gesträubt hatte, als ich trotz allem auf die Beschreibung des kürzesten Weges beharrte. Er hätte sich doch nur ein bisschen klarer ausdrücken brauchen ... Auf das lautstarke Anbrüllen und Drohen mit dem Messer hätte ich dann sicher gut und gerne verzichtet. Und das Trinkgeld für ihn wäre womöglich auch besser ausgefallen.
Aber letztendlich erreichte ich Kentwest – viel zu spät, frierend, triefend vor Schweiß und auf allen Vieren.
Zur Rettung meiner Ehre hielt es in diesem Dorf glücklicherweise niemand für nötig, sich zu dieser Tageszeit im Freien aufzuhalten. Und da es hier insgesamt nur vier Häuser, drei kleine und ein großes, gab, rechnete ich auch nicht damit, dass es hier in naher Zukunft vor Menschen nur so wimmeln würde.
In den drei kleineren Häusern – oder besser Hütten – war es stockfinster. Nur in der unteren Etage des großen Gebäudes, welches sich durch das ganze Dorf an der Straße – beziehungsweise diesem vereisten Steg – entlang zog, brannte noch Licht. Das musste das Gasthaus sein.
Ich rappelte mich auf und bewegte mich wacklig, wie auf rohen Eiern laufend, auf den zwielichtigen Eingang zu.
Trotz der späten Stunde drang aus dem Inneren der gedämpfte Lärm mehrerer angeregter Unterhaltungen, die bei näherem Hinhören in ein betrunkenes Gegröle umschlugen. Zu meiner Erleichterung war die Tür noch nicht verschlossen. Aber mal im Ernst, woher hätten unerwünschte Gäste bei diesem Wetter schon kommen sollen – wenn sie nicht bereits hier waren? Also trat ich ein.
Schweigen.
Ich sah mich um und sah auch so einiges. Zu hören war jedoch nicht das Geringste.
Was ich gemacht hatte?
Gute Frage. Gerechnet hatte ich mit so einer Wirkung jedenfalls nicht. – Und Eitelkeit in allen Ehren, aber so hässlich war ich nun beim besten Willen nicht. Bis auf die Notwendigkeit eines mehr oder weniger ausgiebigen Bades, war ich mit mir selbst sogar recht zufrieden …
Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Jeder meiner Schritte hallte wie ein Donnern durch den Raum, bis ich mich schließlich an den Tresen setzte.
Der abgenutzte Hocker quietschte.
„Was zu trinken“, wandte ich mich an den Schankwirt.
Offensichtlich hatte er für heute Abend keine neuen Kunden mehr erwartet. Also glotzte er mich mit großen Augen an – genau wie die anderen drei Dutzend Mann, die sich wie Sardinen an den schmalen Gasthaustischen drängten. Zumindest nahm ich an, dass der Raum voller Menschen war. Immerhin konnte ich sie klar und deutlich sehen und riechen. Nur – und das machte mich stutzig – der Geräuschpegel entsprach so gar nicht meinen Erwartungen und Erfahrungswerten.
„Hier gibt es doch etwas zu trinken?“, fragte ich und beschloss, mich trotz der äußerst verdächtigen Ruhe möglichst unbeeindruckt zu geben.
Der Schankwirt zuckte leicht zusammen, blinzelte mich übermüdet an und nickte. Eilig, aber geübt hantierte er mit Bierkrug und Zapfhahn und setzte mir nur wenige Sekunden später einen mit Weizenbier gefüllten Humpen vor. Ich nahm sofort einen großen Schluck. Die Mischung war nicht so stark, wie ich es gewöhnt war, aber es tat gut, endlich wieder etwas Richtiges zu trinken. Von Wasser allein kann ein Mann schließlich nicht leben.
Was die anderen Gäste dieser Wirtschaft anbelangte, so vertraten diese offenkundig eine vergleichbare Auffassung und wirkten dementsprechend wenig nüchtern. Dennoch rissen sie sich allesamt zusammen, starrten mich an und gaben keinen einzigen Laut von sich.
„Ich suche eine Unterkunft“, richtete ich mich ein weiteres Mal an den Schankwirt.
„Oh“, sagte er, „Wir haben noch ein Bett frei. – Soll es für nur eine Nacht sein?“
„So ist es doch üblich, oder?“, erkundigte ich mich, weil seine Frage mich etwas verwunderte.
„Nun“, meinte er, „in dieser Saison kommt es nicht häufig vor, dass sich Gäste nur für so kurze Zeit einquartieren. Für gewöhnlich liegt die Verweildauer bei sechs bis acht Wochen.“
„Wieso?“, fragte ich deutlich verständnisloser,
als ich es beabsichtigt hatte, da mir die eher gewöhnungsbedürftige Schönheit der hiesigen Landschaft vor Augen schwebte.
Der Schankwirt musterte mich nicht weniger irritiert. Die Menschenmasse hinter mir geriet jedoch allmählich in Bewegung.
„Guter Mann“, fasste sich der Wirt ein Herz, „Wenn ich mir die Frage erlauben darf ... Wie genau sind Sie nach Kentwest gekommen?“
„Über den Pfad von Nordosten.“ Ich nahm noch einen Schluck.
Aus irgendeinem Grund schien diese Information in den anderen Gästen etwas auszulösen, denn ein aufgeregtes Raunen griff im Saal plötzlich um sich.
„Sie wollen also sagen, der Weg nach Hetfield sei wieder passierbar?“ Der Schankwirt musterte mich mit Skepsis.
„Keine Ahnung, ob das Dorf so heißt“, überlegte ich halblaut, „Wieso? War der Weg bis vor Kurzem ... nicht passierbar?“
„Es ist nur so“, leitete der Mann seine Erklärung ein, „wer Kentwest bei dieser Witterung verlässt oder zu erreichen versucht, neigt normalerweise dazu, irgendwo abzurutschen und sich den Hals zu brechen. Oder er wird einfach von dem Moor verschlungen ...“
„Oh“, bemerkte ich, „Das wusste ich nicht.“
„Sie müssen wissen, guter Herr“, fuhr er fort, „die meisten Herren, die Sie hier sehen, warten schon seit beinahe drei Wochen darauf, Kentwest verlassen zu können. Jemand, der sie von hier fort und aus den Sümpfen herausführen könnte, wäre für sie demnach ...“
„Ach so!“, unterbrach ich ihn einer eventuellen Bitte zuvorkommend und wechselte zu meinem Anliegen. „Aber das eine Bett ist trotzdem noch frei?“
Der Schankwirt nickte bedächtig.
„Ja“, sagte er, „ein Bett in einem Acht-Mann-Zimmer.“
„Das macht nichts“, antwortete ich. „Für eine Nacht ist das in Ordnung.“
Die Verwunderung, die seit meiner Ankunft aus dem Gesicht des Wirtes sprach, wollte nicht weichen. Allerdings war es hinter mir wieder verdächtig ruhig geworden – zumindest bis auf die Schritte, die sich in meine Richtung bewegten.
Kurz bevor eine raue Hand nach meiner Schulter greifen konnte, wandte ich mich um. Ein gut zwei Meter großer Mann, der fast nur aus Muskeln zu bestehen schien, sah mich mit einem Ausdruck an, der in mir nicht das geringste Vertrauen weckte. Womöglich trugen sein ungepflegter Vollbart, die aufdringliche Bierfahne und andere Gerüche, die ich nicht näher bestimmen wollte, in gewisser Weise dazu bei.
„Heh, Junge“, sagte er mit einem kernigen Lachen auf den behaarten Lippen.
Er fürchtete sich vor mir, das spürte ich – auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum dies der Fall war, da der Mann mich locker um einen Kopf überragte. Also entschied ich mich, meine Hände schön dort zu lassen, wo sie waren, und nicht auf den Griff meines Schwertes zu legen, um eben dieses etwas deutlicher in sein Blickfeld zu rücken.
„Was ist?“, fragte ich kurz angebunden.
„Ganz ruhig“, versuchte er mich zu beschwichtigen. „Ich habe ebenfalls vor, morgen aufzubrechen. Was hältst du davon, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen?“
Da war sie. Die unterschwellige Bitte, die ich hatte vermeiden wollen ...
Ich sah dem Mann einen Moment lang in die von zu viel Bier und Müßiggang müden Augen.
„Nein, danke.“
Es war ihm anzusehen, dass er am liebsten seine Faust mit meinem Gesicht in Einklang gebracht hätte. Aber er behielt sich unter Kontrolle. Ich will nicht sagen, dass ich es genoss. Doch er hatte ohne Zweifel einen Respekt vor mir, den mir die Leute für gewöhnlich erst nach einer gewissen Zeit des Kennenlernens entgegenbrachten.
„Heh, Junge“, sagte er, „was soll schon dabei sein?“ Er machte eine einladende Geste, indem er seine Schultern hob und die Arme ausbreitete.
Ich drehte mich unbeeindruckt von ihm weg und damit meinem Bier zu. Das Einzige, was ich noch weniger gebrauchen konnte als eine Begleitung, war eine begriffsstutzige Begleitung.
Er griff erneut nach meiner Schulter.
„Heh.“
Er bemühte sich immer noch darum, freundlich zu klingen.
Auf mich traf das allerdings nicht zu.
„Ich gebe dir einen gut gemeinten Rat: Lass los, setz dich hin und wage es nie wieder mich anzusprechen.“
Und es funktionierte tatsächlich! Er ließ mich los, wandte sich um und fluchte leise. Zwar war in seinem Gemurmel die eine oder andere Beleidigung gegen mich enthalten, aber ich war fürs Erste nur froh, dass er weg war.
Schließlich nahm der Mann gehorsam in einer der hinteren Reihen des überfüllten Gastraums Platz und schwieg fleißig.
Zufrieden leerte ich meinen Humpen und schob ihn dem Wirt entgegen.
„Noch eins?“, fragte er.
„Das übernehme ich“, sagte eine Stimme, noch bevor ich diese Anfrage verneinen konnte.
Was war nur los mit diesen Leuten? Plötzlich saß wieder jemand neben mir. Ein hagerer Mann, der trotz seiner offensichtlich verwesenden Kleidung – einer gewagten Kombination aus den pelzigen Häuten vormals lebendiger Tiere – weitaus gepflegter wirkte als mein vorheriger Gesprächspartner. Die Verschlagenheit in seinen spaltgroßen Augen sprach jedoch Bände.
Ich beschloss also, ihn nicht zu mögen – was allerdings nicht hieß, dass ich vorhatte, seine Großzügigkeit einfach so auszuschlagen. Alkohol ist teuer, verdammt noch mal!
Ich gab dem Wirt durch ein Nicken zu verstehen, dass er der Bitte meines Gönners Folge leisten sollte.
„Ich brauche deine Hilfe“, sprach der Fremde mich nun direkt an. „Ich sitze hier schon viel zu lange fest und will einfach nur noch weg.“
„Wenigstens kommst du gleich zur Sache“, stellte ich fest und nippte an dem frischen Gerstensaft. „Und wie genau soll meine Hilfe aussehen?“
„Nimm mich mit“, sagte er und rutschte gierig auf mich zu, „Raus aus dem Sumpf, das reicht mir schon. Und keine Sorge, ich zahle gut.“
„Ich reise allein.“
„Ja, ja. Vermeiden von Schwierigkeiten und so.“
Der Fremde machte eine versöhnliche Handbewegung und gab sich gezwungen aufgeschlossen.
„Ich nehme auf Reisen keine Arbeit an“, verdeutlichte ich meinen Standpunkt. „Ist nichts Persönliches. Aber ja, es dient der Vermeidung von Schwierigkeiten.“
Die spaltgroßen Augen des hageren Mannes weiteten sich zu breiten Schlitzen. Ich konnte beinahe hören, wie die Gedanken hinter seiner Stirn auf der vergeblichen Suche nach einem Plan B miteinander kollidierten und sich wieder voneinander lösten. Es erinnerte mich an das Ticken einer Uhr – nur sehr, sehr viel langsamer.
„Obwohl“, räumte ich aus einer Laune heraus dann doch noch ein und bemerkte, wie sich im ganzen Raum die Ohren spitzten, „wenn das Kopfgeld stimmt, mache ich gelegentlich eine Ausnahme. – Ist auf dich ein Kopfgeld ausgesetzt?“
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