Langsame, schmatzende Schritte. In der Luft der Geruch von modernder Erde und faulen Eiern. Wo war ich?
Von allen Seiten umgab mich Dunkelheit, die nur an wenigen Stellen in meiner Umgebung nicht ganz so dunkel wie der Rest war.
Dann fiel es mir ein. Der Sumpf, die Herberge, die Gäste, das Bett – und diese Runen. Ich lag noch halb im Sitzen und zur Seite gekippt auf meinem Nachtlager und starrte in die unterschiedlichen Facetten eines lichtlosen Raumes. Ich konnte mir nicht erklären, wer oder was genau mich außer Gefecht gesetzt hatte. Aber ich wusste, dass ich, auch wenn ich niemanden sehen konnte, ohne Zweifel beobachtet wurde.
Mein Gefühl sagte es mir und es war zu ruhig. Da blieb die Frage offen, wo diese Schritte ihren Ursprung hatten.
Behände schob ich mich von dem Bett herunter in die Hocke, griff nach den Waffen, zog mein Schwert, hörte, wie dieses lautstark auf Metall traf, und spürte plötzlich, wie die Kälte einer fremden Klinge meinen Hals berührte.
Konnte das sein? War das möglich? Ich war fassungslos, wie schnell sich diese schattenhafte Gestalt vor mir bewegte. Binnen Bruchteilen von Sekunden hatte sie mich mit einer reibungslos fließenden Bewegung einfach und ohne jeden Laut überwältigt.
Allmählich ließ ich meine Schwerthand sinken, jedoch nicht aus Resignation oder Angst vor meinem Gegner. Ich war ehrlich beeindruckt.
„Entschuldige“, hörte ich die klare Stimme eines jungen Mannes sagen.
Ich versuchte, trotz der Dunkelheit besser zu sehen. Zu meiner Erleichterung hatte es das fahle Mondlicht endlich geschafft, sein Reich auf dieses Zimmer auszuweiten. Jedoch wollte das, was ich dadurch sah, so gar nicht zu dem passen, was ich eben noch gehört hatte.
Die wenigen vagen Umrisse, die ich gerade so erkennen konnte, wiesen zwar auf eine schlanke Gestalt hin. Allerdings mangelte es ihr nur zu deutlich an den für einen Menschen typischen Gattungsmerkmalen. Eine dicke, raue Schuppenkruste bedeckte beinahe die gesamte Oberfläche dieses Körpers. Kopf, Hals und Rumpf wirkten, als seien sie zutiefst miteinander verwachsen und der Geruch von Brackwasser, altem Sand und Moder tat sein Übriges. Es machte den Eindruck, als sei dieses Wesen gerade eben den ewig verwesenden Tiefen der Sümpfe entstiegen, um ...
Ja, um eigentlich was zu tun?
„Ich habe nicht vor, dich anzugreifen“, sagte es in einem informativen Plauderton, der eine jugendliche Sympathie ausstrahlte. „Ehrlich gesagt, wäre ich sogar dafür, die Waffen vorerst ruhen zu lassen.“
Aus reiner Gewohnheit hatte sich der Griff um das Heft meines Langschwertes aufgrund der vorangegangenen Eindrücke wieder verfestigt. Sollte es notwendig werden, war ich umgehend bereit, von ihm Gebrauch zu machen. Hatte dieses Wesen meine Anspannung bemerkt? Aber wie hätte es diese bei den spärlichen Lichtverhältnissen, die hier vorherrschten, wahrnehmen können? Es war zu dunkel, um diese Art von kleinsten Gesten deuten zu können. Aber hatte ich denn die Wahl, meine derzeitige Lage zu hinterfragen?
Erneut ließ ich meine Waffe sinken. Im Gegenzug verschwand der metallische Druck der fremden Klinge von meinem Hals.
Die bizarre Gestalt wandte sich dem winzigen Fenster zu und legte ein paar Gegenstände auf den Tisch, an den ich mich aus einem mir unbekannten Grund zu erinnern versuchte. Wenig später erhellte sich das Zimmer.
Hatte diese Öllampe vorhin auch schon auf dem Tisch gestanden?
Allmählich spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, begründet an meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Für den Moment war es jedoch ratsamer, merkwürdige Erscheinungen von Gegenständen einfach merkwürdige Erscheinungen von Gegenständen sein zu lassen und auf meine stetig zunehmende Ermüdung zu schieben.
Immerhin sah ich jetzt viel deutlicher, mit was oder besser mit wem ich es zu tun hatte. Diese raue Schuppenhaut bestand weder aus Schuppen noch aus Haut. Es war eine zentimeterdicke Kruste aus teils getrocknetem, teils noch feuchtem Schlamm, der an seinen festeren Stellen bereits zu bröckeln begann. Auch die verzerrten Konturen gewannen mit dem Licht an Schärfe. Unter dieser Schicht aus fauliger Erde verbarg sich eine vermummte Figur in einem knielangen Parka. Die Kapuze war weit über die Stirn nach vorn gezogen und verdeckte mit ihrem Schatten große Teile des darunterliegenden Gesichts.
Etwas erschien mir jedoch weiterhin äußerst merkwürdig. Selbst als diese Gestalt sich wieder zu mir umdrehte, war nirgends eine Klinge zu entdecken. Wo war die Waffe, mit welcher ich vor wenigen Augenblicken einfach so überwältigt worden war?
„Es lag nicht in meiner Absicht, dich mit der Schutzvorrichtung zu betäuben“, vernahm ich erneut die Stimme eines jungen Mannes. „Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, dass die untere Liege schon so bald wieder genutzt werden würde.“
Ein paar Hände in abgenutzten Lederhandschuhen schoben die Kapuze nach hinten und ein dunkler – wahrscheinlich brauner – Haarschopf kam zum Vorschein. Mit Sicherheit war dieser vor geraumer Zeit schon einmal gestutzt worden. Inzwischen wucherte er jedoch wild in alle Richtungen und quer durcheinander, ungepflegt wirkte er allerdings nicht. Er verlieh dem gefälligen Gesicht darunter vielmehr eine freche Note, die ohne Zweifel einen gewissen Zweck verfolgte. Das winzige Lächeln in den sympathisch geschwungenen Lippen tat hierzu das Übrige. Dabei wirkte dieser junge Mann, der mir nun gegenüberstand, im Augenblick eher ernst und betrachtete mich mit seinen pechschwarzen Augen auf eine arrogante, fast abschätzende Art.
Er hatte etwas von einem Schatten – ständig präsent, aber keineswegs greifbar.
Plötzlich lächelte er amüsiert. Mir fiel es schwer den eingeübten Drang, mein Schwert fester zu fassen, zu unterdrücken.
Dann kicherte er leise.
„Was ist?“, platzte es aus mir heraus.
„Ich sagte doch“, sprach er, während er sich den Parka aufknöpfte und seinen Zustand dabei kritisch betrachtete. „Es war nicht meine Absicht in eine Konfrontation mit dir zu geraten.“
Da waren sie, die Waffen. Als der Bursche sich vollständig aus seiner Jacke befreit hatte, stellte ich fest, dass sich zahlreiche Riemen von den Schultern abwärts bis zur Hüfte quer über seinen Rumpf spannten. Ich entdeckte ein ganzes Arsenal von Wurfmessern, Dolchen, vielseitig gestalteter Nadeln und eine kleine unscheinbare Wildledertasche, die alles Mögliche in sich beherbergen konnte. Bis auf die letzte freie Stelle waren sämtliche Riemen mit professionellen Mordwerkzeugen gespickt, die den schlanken Oberkörper des jungen Mannes wie eine zweite Haut überwucherten. Was genau sich außerdem hinter seinem Rücken befand, konnte ich von meiner Position aus nur erahnen. Aus Prinzip vermutete ich aber erst einmal das Schlimmste.
„Nitja Belting“, stellte er sich vor und streckte mir lächelnd seine Hand entgegen.
Ich ließ diese dort, wo sie war, und rappelte mich aus eigener Kraft vom Boden auf.
„Aiden Wirket“, antwortete ich.
„Interessant, dich kennenzulernen.“
„Spar' dir die Worte“, erwiderte ich ruhig und legte mein Schwert samt Hülle auf das Bett neben mein Kopfkissen.
Nitja schob sich kurzerhand an mir vorbei und berührte eines der runenartigen Symbole am oberen Rahmen des Bettgestells – und er bekam keinen Schlag ...
„So“, sagte er und grinste mich breit an, „jetzt solltest du ohne Schwierigkeiten ins Bett gehen können. Ich wünsche dir eine gute Nacht und angenehme Träume.“
Ich starrte ihn an.
Wurde ich soeben von einem Attentäter, Meuchelmörder, Hexenmeister oder Schlimmerem ins Bett geschickt?!
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