Im Zentrum des Platzes konnte ich etwas erkennen, dass aus der Ferne einem riesigen, massiven Steinblock mit eingraviertem Säulenmuster und Spitzdach ähnelte. Bisher hatte ich eigentlich angenommen, dass man so etwas vorzugsweise dort aufstellte, wo die Leute nur hingingen, wenn sie sich wirklich sicher waren, dass sie dorthin wollten – zum Beispiel auf entlegenen Waldlichtungen, in Gebirgstälern oder verborgenen Höhlen. In Duneburg verfolgte man allem Anschein nach jedoch einen ganz anderen Ansatz. Um ehrlich zu sein, sah es so aus, als habe jemand diesen klobigen Steinprotz mal aus Zufall bei einem Spaziergang über die örtlichen Wiesen entdeckt und prompt beschlossen, ein lukratives Geschäft daraus zu machen, dessen Resultat in einer Stadt mit mehreren Tausend Einwohnen bestand. Aber warum man dieses hässliche Monument mit der Zeit nicht versehentlich zugebaut, sondern ausgerechnet den zentralen Marktplatz der Stadt um es herum errichtet hatte, wollte mir beim besten Willen nicht einleuchten.
Trotzdem musste derjenige, wer auch immer dafür verantwortlich war, mit seiner ausgelösten Wirkung mehr als nur zufrieden sein. Denn die Menschenmenge auf diesem Marktplatz verhielt sich nicht so, wie es sich für eine handelsübliche Menschenmenge auf einem Marktplatz gehörte. Kein Gedränge, kein Geschrei, kein Geschimpfe. Die Menge benahm sich mehr wie ein Publikum. Sämtliche Augen waren erwartungsvoll auf diesen aufgehübschten Gesteinsblock gerichtet. Niemand machte Anstalten, das doch recht eintönige Unterhaltungsprogramm zu unterbrechen. Die meisten wirkten sogar gewissermaßen interessiert. Soweit ich es beobachten konnte, gab es nicht einen Menschen, der sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle rührte oder ein anderes Geräusch von sich gab, als diesen monotonen Singsang.
Plötzlich erkannte ich, was auf diesem Markt hier ganz eindeutig fehlte. Es gab kein Angebot! Weit und breit war nicht ein einziger Stand zu sehen, an welchem diverse Haushaltswaren, Lebensmittel oder Dienstleistungen angeboten wurden. Es mangelte an Plakaten und Werbeschildern, die einen unmissverständlich darauf hinwiesen, dass man ohne Schuhcreme mit Waldmeisteraroma und einem Paar modischer Handschuhe aus schwarz gebeiztem Zedernholz keinen weiteren Tag mehr leben konnte. Nicht einmal die geldgierigen Straßenhändler mit ihren zweifelhaften Mantelinnenseitenwarenauslagen und ihrem angeborenen Gespür für aufdringlich schnell verkauften Krempel wagten es, sich unter dieses Volk zu mischen. – Und die gab es sogar in Dormizien!
Kein Wunder, dass in dieser ausgedehnten Ansammlung von Menschen niemand das Bedürfnis verspürte, sich angewidert wegzudrehen oder einem übereifrig ambitionierten Verkäufer systematisch
in geduckter Haltung auszuweichen. Hier gab es ja nicht einmal lachhaft überteuerte Sonderangebote, die es – ideell gesehen – wert waren, dass man jemanden engagierte, der sich mit den Konkurrenzkunden inbrünstig darum prügelte. Angesichts dieser überdeutlichen Endverbrauchermehrheit war es also nur eine Frage der Zeit, bis sich die potenziellen Kunden anderen Dingen zuwandten – wie zum Beispiel einem riesigen Stein und Gesangsstunden ... Oder war dieses Ding selbst vielleicht eine besonders ausgeklügelte Werbeaktion?
Je länger ich die Menschen dieser Stadt beobachtete, desto verzweifelter erschienen sie mir. Jeder einzelne von ihnen stand einfach nur da, brabbelte melodisch vor sich hin und starrte, wie in Trance, auf diese dahindrapierte Gesteinsformation und damit ins Leere. Dabei konnte ich selbst jetzt – aus nächster Nähe – nicht ein Wort von dem verstehen, was die Leute von sich gaben ...
Doch. – Das mit dieser Werbeaktion erschien mir von Minute zu Minute mehr und mehr wahrscheinlicher.
Bevor ich aber versuchte, mit einem dieser umstehenden Menschen in persönlichen Kontakt zu treten, tat ich das, was jeder gute Reisende, der in Sachen Weltgewandtheit etwas auf sich hielt, an meiner Stelle getan hätte: Ich stellte fest, dass diese fremde Kultur sowohl interessant als auch vielschichtig war, und beschloss umgehend, sie mit der Unbekümmertheit eines herabfallenden Schmiedehammers näher zu ergründen. Stück für Stück, Zuschauer für Zuschauer, Strophe für Strophe schob ich mich durch die Masse – und blieb dabei verdächtig unbehelligt.
Erst eine dunkelrote Samtschnur wagte es, sich mir in den Weg zu stellen.
Noch keine Kommentare vorhanden
Was denkst du?