Nach den ersten Momenten einer rotvioletten Orientierungslosigkeit stellte ich fest, dass der herbergsübliche Gastraum mit Schenke und Sitzgelegenheiten, nun ja, auch nicht vorhanden war. Stattdessen breitete sich vor mir ein mit Plüsch und Brokat besetzter Geschäftstresen und die sehr sinnliche Empfangsdame des Hauses aus. Glücklicherweise wies mich ein winziges Schild am äußersten Rand der Tischplatte darauf hin, womit ich es zu tun hatte. Die genaue Bezeichnung lautete: Rezeption.
„Was kann ich für dich tun, junger Mann?“, raunte mir eine tiefe, sanfte Frauenstimme lustvoll entgegen. Ein sehr intimer Klang schwang unverkennbar in ihr mit und mir kam der dringliche Gedanke, trotz zahlreicher Zimmer und Betten besser doch noch einmal auf die Suche nach einer alternativen Unterkunft zu gehen. Sobald ich jedoch dem Ursprung dieser Stimme genauer nachging, fiel mein Blick auf das ohne Zweifel sinnliche Lächeln einer – sagen wir – eindrucksvollen Dame, die sämtlichen Raum jenseits des Tresens ausfüllte. – Aber nein. Konnte wirklich sie ... Diese Stimme ...
Ich zählte eins und eins zusammen, beugte mich leicht nach vorn und wagte einen unauffälligen Blick an der Dame vorbei und auf den Boden hinter dem Tresen.
„Nein, Schätzchen, da unten sitzt niemand“, gab mir die üppige Frau sanftmütig zu verstehen.
„Ja, ja ... Man müsste schon lebensmüde sein ...“ Ich stockte. Hatte ich das eben laut gesagt?
Mit einigen für ihre Masse sehr eleganten Handbewegungen legte sie ein Formular und einen angespitzten Federkiel vor mir auf den Tresen.
„Recht hast du“, bestätigte sie liebevoll lächelnd und zwinkerte mir zu.
Es gelang mir, sie für einen kurzen Moment mit meinem Blick fast vollständig zu fixieren. Eine interessierte Erwartung war ihr deutlich anzumerken. Aber worauf wartete sie?
Mit einer Hand zog ich das spröde Stück Papier näher an mich heran und begann es durchzulesen.
„So etwas lässt man sich nicht gefallen“, widersprach ich ihr und mir und setzte die Unterhaltung fort.
„Würdest du dort bitte deinen Namen eintragen?“, sprach sie sanft und wies mit ihrem kurzen, rundlichen Zeigefinger auf die oberste Leerzeile. „So etwas nimmt man sich gar nicht erst zu Herzen, Schatz.“
Ich griff nach der Feder und schrieb meinen Namen auf das Blatt.
„Gibt es hier Einzelzimmer?“, erkundigte ich mich um einen reumütigen Ton bemüht.
„Dann mach dort bitte ein Kreuz hin.“ Sie zeigte auf das erste in einer Reihe von kleinen Kästchen.
Ich machte mein Kreuz.
„Aiden Wirket“, las sie laut. „Das klingt weder nach Duneburg, noch nach einem anderen Ort in den zentralregierten Ländern, den ich kenne. Deiner trockenen Art und der schweigsamen Redeweise nach zu urteilen, würde ich schätzen, dass deine Heimat nördlich von hier liegt.“
„Dormizien“, bestätigte ich.
„Oh, also doch aus dem Süden? Oder Südwesten?“ Die Dame schien überrascht, meinte dann aber verträumt: „Es klingt nach Wärme und Sonne, vielleicht etwas Meer und Palmen. Liege ich richtig?“
„Palmen?“, wiederholte ich ahnungslos.
„Das sind diese großen Bäume mit langem Stiel, ohne Geäst und mit reichlich Blattwerk und Nussgemüse am oberen Ende ...“
In meinem Gesicht bahnten sich wohl mehr und mehr Fragen ihren Weg ans Tageslicht. Und noch mehr wurden es, als sich in der völlig kantenlosen Miene der rundlichen Dame plötzlich eine beinah mütterliche Fürsorglichkeit abzeichnete.
„Wenn du noch weiter nach Süden gehst, wirst du bald wissen, wovon ich rede“, erklärte sie amüsiert.
Ich zog eine Braue nach oben.
„Wie lange möchtest du bleiben?“, wechselte sie geschickt das Thema.
„Zwei Tage, vielleicht mehr“, antwortete ich ohne Umschweife.
„Mit Frühstück?“
„Heißt das essen am Morgen oder essen nach dem Aufstehen?“
„Wie du möchtest.“ Die Dame hob und senkte ihre fülligen Schultern. „Ab sieben steht es vor der Tür und bleibt dort, bis du es hereinholst oder abreist. Die meisten meiner Gäste nehmen es nicht so genau mit den Tageszeiten – das hat emotionale und persönliche Gründe.“
Ich zog auch meine andere Braue nach oben.
Sie zwinkerte mir mit beiden Augen zu, sodass sich in ihrer oberen Gesichtspartie für einen Moment unzählige Fältchen zeigten, die sich wie kleine Wassergräben über ihre massigen Schläfen ergossen.
„Dann mit Frühstück“, fasste ich mich kurz und schluckte leise. Ich nahm mir fest vor, mich umgehend an diesen Anblick zu gewöhnen.
„Wie du möchtest“, lächelte sie mir lieblich zu.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zahlte ich den nicht überdurchschnittlichen Mietpreis für zwei Tage einschließlich Frühstück im Voraus, ließ mir den Schlüssel aushändigen und stand wenig später und ohne besondere Vorkommnisse in einem sehr geräumigen und vollständig mit gelbem Samtbrokat überzogenen Einbettzimmer. Wie der Zufall so spielte, hatte ich für diesen Moment jedoch kein Interesse daran, mit mir selbst über Fragen zur Inneneinrichtung und die verschiedenen Geschmäcker oder Stilrichtungen zu diskutieren. Kaum war die Zimmertür hinter mir ins Schloss gefallen, hatte ich bereits das Bett erreicht und versank traumlos in den Tiefen eines sonnengelben Plumeaus mit floralem Steppmuster.
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