Etwas hatte sich verändert.
Es gibt Momente im Leben, liebe Mädchen und Jungen, liebe Kätzlein und Katerchen ... Es gibt Momente im Leben – in der Kindheit, in der Jugend, im Erwachsenendasein, ja sogar im hohen Alter – nach denen etwas anders ist. Oft wissen wir selbst nicht, wieso es dazu kommt oder warum nur wir und nicht andere davon betroffen sind. Noch öfter erfahren wir es nie. Doch diese Momente passieren – unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht. Und dann ist etwas anders.
Mama lächelte – ständig.
Sie lächelte ständig, wenn sie mich sah. Es sollte ein liebes, wohlgemeintes Lächeln sein. Aber es war in seiner wahren Absicht weder lieb noch wohl gemeint.
Mama behandelte mich neuerdings zuvorkommend und redete mit mir stets in ruhigem Ton. Mit meinen Geschwistern hingegen schimpfte sie, wies sie bei Bedarf zurecht und lachte mit ihnen aus wahrem Herzen.
Mama hatte sich verändert – oder vielmehr die Art, wie sie sich in meiner Gegenwart zu verhalten pflegte.
Meine Geschwister kicherten – doch die Weise, auf die sie es taten, war eine andere.
Hatten sie sich zuvor noch unmittelbar hinter meinem Rücken über mich belustigt – und damit meine ich genau hinter mir und in meinem bewussten Beisein – so lachten sie jetzt nur noch, wenn ich nicht zugegen war.
Kam ich unverhofft dazu, hielten sie ganz plötzlich inne und schwiegen mich verhalten an. All der Spaß schien ausschließlich für sie gedacht, für meine Geschwister – und nicht für mich, den anderen.
Es gab auf einmal eine Grenze zwischen ihnen – meinen Brüdern und Schwestern – und mir. Auch wenn wir uns immer noch dasselbe Körbchen zum Schlafen teilten, ein Teil ihrer Gruppe war ich nicht mehr.
Meine Geschwister gehörten zusammen, so wie eh und je – nur ihr Verhalten mir gegenüber war verändert.
Was passiert war? Genau vermag ich es nicht zu sagen. Doch eines ist mir heute mehr als klar:
Mir widerfuhr eine Veränderung, die wichtig war. Denn blicke ich zurück, liebe Mädchen und Jungen, liebe Kätzlein und Katerchen, dann klingen diese Worte vielleicht traurig und sehr schwer. Meine damaligen Gedanken sind dies jedoch keineswegs.
In meinen jungen Tagen war ich weitaus weniger besorgt, als meine Erzählung euch eventuell vermuten lässt. Denn neben dem Verhalten meiner Mutter, meiner Brüder und meiner Schwestern hatte sich zugleich noch etwas anderes verändert. Meine Aufmerksamkeit, die zuvor meiner Familie galt, wurde nun zusammen mit meinem Interesse und meiner schier endlosen Neugier an völlig anderer Stelle gebraucht:
Old Lady sprach mit mir.
Natürlich sprach sie nicht so, wie sie es sonst mit mir und den Mitgliedern meiner Familie tat. Gewöhnlich redete sie ständig auf uns ein. Sie redete über dieses und über jenes. Sie redete über alles Mögliche.
Jetzt aber redete sie mit mir. Sie sprach mit mir. Sie unterhielt sich mit mir. Sie teilte sich mir mit und ich reagierte auf sie – na ja, so gut ich eben konnte. Der Akzent meiner frühen Tage war grauenvoll. Aber was sollte ich auch erwarten, wenn ich von einer Sprache, die sich auf zahllose Variationen von „Miu, miu!“, Knurren und Körpersprache beschränkte, zu einem verbalen Sprachsystem mit einer wissenschaftlich erforschten sowie reglementierten Syntax und Grammatik überging?
Old Lady lächelte viel. Sie lächelte aufrichtig und gut gemeint. Sie lachte mit mir und ich tat es mit ihr ebenso – auch wenn das menschliche Kichern einige Übung erforderte. Ich hatte wahre Freude daran, mich mit ihr zu verständigen. Und endlich erhielt ich auf die Fragen mit „Warum?“ andere Antworten als nur „Darum!“.
So übersah ich doch gänzlich, was sich im Nu alles verändert hatte. Ich bekam es gar nicht mit: Plötzlich passte ich nicht mehr an den einen Ort und gehörte stattdessen an einen völlig anderen.
Es geschah – ganz einfach: Ich veränderte mich.
Ich machte meinen ersten Schritt in Richtung Erwachsenwerden.
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